Endlich Ruhe in meinem Kopf – ADHS und Meditation

ADHS Ruhe Meditation
Nicht nur bei Kindern und Jugendlichen wird ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung) diagnostiziert. Auch Erwachsene leiden unter Symptomen, wie ein ständig auf Hochtouren arbeitendes Gehirn und ein sich getrieben fühlen.

Erfahrungsbericht einer ADHS-Betroffenen.

Ich kenne Stefanie. Es ist erstaunlich und bewundernswert, wie Meditation und Achtsamkeitsschulung ihr Leben verändert haben. Das gibt Hoffnung für Betroffene.

Mit 49 Jahren erhielt Stefanie Sigl die Diagnose ADHS. Doch seit sie meditiert, ist sie nicht länger Spielball ihrer zuvor unkontrollierbaren Gedanken und Emotionen. Als Betroffene der Aufmerksamkeitsdefizitstörung schildert sie ihren Weg aus einem quälenden Ausnahmezustand.

Stefanie’s Erfahrungsbericht wurde auf der Plattform Netzwerk EthikHeute veröffentlicht.

Update September 2019
Stefanie Sigl ist inzwischen zertifizierte MBSR Achtsamkeitslehrerin am Starnberger See und gibt ihren Erfahrungsschatz einfühlsam weiter, nicht nur an ADHS-Betroffene.
Zur Webseite von Stefanie: https://www.stefaniesigl.de

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Erfahrungsbericht über ADHS und die Wirkung von Meditation von Stefanie Sigl

”Du strahlst so viel Ruhe aus.” So etwas bekommt eine ADHS-Betroffene wie ich eher selten zu hören. Und nach wie vor stutze ich verwundert, wenn ich solch ein Kompliment erhalte, bevor ein zufriedenes Lächeln über mein Gesicht huscht.

Vor zwei Jahren erhielt ich, 49-jährig, die Diagnose ADHS. Ich suchte nach Möglichkeiten, wie ich gelassener und weniger getrieben, wie mein Gehirn klarer, ruhiger, konzentrierter werden könnte und stieß auf Meditation.
Zahlreiche Publikationen weisen darauf hin, dass Achtsamkeitspraxis und Meditation die Selbstregulationsfähigkeit und Aufmerksamkeitsprozesse verbessern sowie das Arbeitsgedächtnis stärken können und so Fähigkeiten fördern, mit denen Menschen wie ich Schwierigkeiten haben. Das klang sehr ermutigend und vielversprechend.

Nur wie sollte ich meditieren − also längere Zeit in einer Position verharren und nichts tun? Das erschien mir völlig unmöglich. Ich konnte ja nicht einmal zehn Minuten ruhig sitzen und Zeitung lesen. Doch ich hatte nichts zu verlieren. Anhand des Buches „Meditation für Skeptiker“ von Ullrich Ott wagte ich das Experiment und fing einfach an. Wie endlos lang 60 Sekunden sein können! Die ersten Male sprang ich wie von der Tarantel gestochen auf, sobald eine Minute um war.

Nicht mehr so getrieben

Doch ich blieb dabei und nach circa drei Wochen täglichen Übens konnte ich fünf Minuten ruhig sitzen, ohne das Gefühl zu haben, explodieren zu müssen. Ich fing an, mich auf meine kurzen, täglichen Sitzungen zu freuen und mir war bewusst, dass in dieser Zeit etwas Außergewöhnliches mit mir passiert.

Mein ständig auf Hochtouren arbeitendes Gehirn wurde ruhiger und ich fühlte mich nicht mehr so getrieben. Und mit einer mir bis dahin fremden Disziplin setzte ich mich weiter jeden Morgen auf mein Kissen. Aus fünf Minuten wurden zehn, fünfzehn und mehr. Nie werde ich den Moment vergessen, als es in meinem Kopf plötzlich ganz still wurde − mein Gehirn zum ersten Mal aufhörte, zu vibrieren und gegen die Schädeldecke zu klopfen. Eine Empfindung, die mir erst bewusst wurde, als sie nicht mehr da war.

Heute sind Meditation und Achtsamkeit ein fester Bestandteil meines Lebens. Sie stützen es. In meiner morgendlichen Meditation sitze ich mit mir − meinen überbordenden Gefühlen, mäandernden Gedanken, Schmerzen, Ängsten, Zweifeln, meiner Wut, meiner Freude. Ich lasse kommen, was kommt; gehen, was geht und bin mit dem, was ist.

Diese Zeit ist mir unendlich kostbar. In ihr klärt sich auf wundersame Weise vieles − die Dinge werden plötzlich klar. Was ich ursprünglich als Training für mein Gehirn begonnen hatte, hat eine ganz eigene und unerwartete Kraft entwickelt.

Auch im Alltag nehme ich mich bewusster wahr und bin nicht länger Spielball meiner extremen Emotionen und unkontrollierbaren Gedanken, meiner Affekte und Automatismen. Das gibt mir Sicherheit und Vertrauen. Endlich habe ich mehr Kontrolle über mich und mein Leben und befinde mich nicht mehr ständig im Ausnahme- und Alarmzustand.

Meditation für Menschen mit ADHS

Meditation ist eine Kombination aus Konzentration und Bewusstheit. In ihr kann ich wunderbar üben, die Aufmerksamkeit gezielt zu lenken. Das bewusste Wahrnehmen von Körperempfindungen, Emotionen, Gefühlen, Stimmungen und Gedanken in der Meditation verändert meine Eigenwahrnehmung.

ADHS-Betroffene wie ich sind meist in einem Strudel aus Gefühlen, Gedanken, Stimmungen gefangen. Sie können oft nicht benennen, wie es ihnen geht, denn sie fühlen und denken sehr viel, durchaus Widersprüchliches, gleichzeitig und sehr intensiv. In der Meditation kann sich dieser Strudel verlangsamen und auflösen.

Meditation ändert nicht unsere Persönlichkeitsstruktur und ‘heilt’ keine ADHS, aber das meditierende Gehirn kann lernen ruhiger zu werden, Prioritäten zu setzen, anders mit auslösenden Reizen und Situationen umzugehen. Das Handlungsspektrum erweitert sich und neben konditionierten, impulsiven Reaktionen werden immer mehr bewusste und reflektierte Reaktionen möglich.

Das Werkzeug Achtsamkeit in ADHS-Händen

Meditation bedeutet nicht, den Geist zu leeren und keine Gedankenaktivität zu haben, sondern bewusst, ohne zu werten im Augenblick zu sein − wahrzunehmen, wie der Geist wandert, zu akzeptieren, dass er es tut und ihn immer wieder ins Jetzt und in das Erleben des Augenblicks zurück zu bringen.

Den unruhigen Affengeist kennen wahrscheinlich alle Meditierenden und viele fürchten ihn. Für „uns“ ist er ganz normal. Er erschreckt uns nicht. Meditieren heißt auch nicht in Stille, mit geschlossenen Augen und verknoteten Beinen, regungslos auf einem Kissen zu sitzen. Man kann genauso gut im Stehen, im Liegen oder in Bewegung meditieren. Man kann zu Geräuschen oder Musik meditieren, die Aufmerksamkeit auf einen visuellen Reiz richten.

Wir ADHS-Betroffenen sind sehr empfänglich für Stimmungen. Wenn wir diese Fähigkeit auf uns selbst richten, sind wir zu sehr differenzierter Selbstbeobachtung fähig. Wir bringen den oft zitierten Anfängergeist mit. Wenn wir uns auf etwas Neues einlassen, sind wir aufgeschlossen und unvoreingenommen.

Durch unsere Reizoffenheit und Reizfilterschwäche leben wir mit dem Großteil unserer Wahrnehmung im Augenblick. (Der Begriff Aufmerksamkeitsdefizit ist aus meiner Sicht irreführend, denn unser Defizit liegt in der mangelnden Steuerung der Aufmerksamkeit, nicht in mangelnder Aufmerksamkeit.) Das ist unsere Natur und ein Grund, warum wir schlecht vorausdenken und planen können. Wir verfolgen Ziele selten geradlinig. Der Weg ist unser Ziel. Entscheidungen treffen wir oft aus dem Bauch heraus − intuitiv. So sind wir sehr offen für das intuitive Erfahren in der Meditation, das sich konzeptionellem Denken nicht erschließt.

Und so schließt sich der Kreis für mich. ADHS hat viele Qualitäten, die die Meditations- und Achtsamkeitspraxis bereichern können. Und Meditation und Achtsamkeit sind ein Nährboden, auf dem diese Qualitäten ausgezeichnet wachsen und gedeihen. Ich empfinde das als eine sehr bereichernde Allianz.

Fehlende Angebote für Erwachsene

Meditation ist sicher nicht für alle Betroffenen interessant und geeignet, noch kann sie die (alleinige) Lösung aller Probleme sein. Aber sie bietet Interessierten die Chance, etwas Ruhe in ihr getriebenes Leben einkehren zu lassen und intuitiv Strategien zu lernen, mit denen sie gelassener mit sich, ihrer Störung und den Anforderungen aus der Umwelt zurechtkommen.

Leider gibt es meines Wissens kaum Gruppen und Kurse für Erwachsene, in denen Achtsamkeitspraxis ADHS-gerecht angeleitet wird. Gerade zum Einstieg sind klassische Meditations- und MBSR-Kurse, Meditationsabende in buddhistischen Zentren etc. für Menschen mit ADHS nicht geeignet.

Wichtig wären aus meiner Sicht, mehr Anleitungen mit deutlich kürzeren Meditationseinheiten, stärkeren Reize wie Geräuschen, auf die sich die Aufmerksamkeit richten kann, und mehr Körpermeditationen mit Fokuswechsel wie Bodyscan oder Achtsamkeitsyoga. Ich hoffe, dass sich diese Lücke auf dem ständig wachsenden Markt für Achtsamkeitsprogramme in den kommenden Jahren schließen wird. Vielleicht kann ich mit diesem Artikel ein wenig dazu beitragen.

Stefanie Sigl MBSR Meditation

Stefanie Sigl, seit ihrer ADHS-Diagnose beschäftigt sie sich mit Meditation und Achtsamkeit, absolviert eine Ausbildung zur MBSR -Lehrerin und schreibt an einem Achtsamkeits- und Meditationsbuch für Menschen mit ADHS. Veröffentlichungen: 2017 erschienen im Achtsamkeitsmagazin Moment by Moment zwei Beiträge von ihr: ‘ADHS, Meditation und ein Gehirn, das an die Schädeldecke klopft.’ (Ausgabe 03_2017) und ‘Gemeinsam schweigen und den Reset-Knopf drücken’ (Ausgabe 04_2017). https://www.stefaniesigl.de

Was ist eigentlich ADHS ?

AD(H)S bedeutet Aufmerksamkeitsdefizitstörung, wobei das „H“ nicht zwingend für Hyperaktivität steht. ADHS ist keine Krankheit, sondern eine angeborene, ererbte neurobiologische Störung. Sie ist eine besondere Art menschlichen Seins mit außergewöhnlichen Stärken, aber auch Schwächen.

Menschen mit ADHS sind reizoffen und sehr sensibel. Sie können enorm einfühlsam sein und eine prägnante Wahrnehmung haben. Sie sind offen, begeisterungsfähig, oft mutig, mitreißend und unkonventionell.

Durch den Mangel an Dopamin im Gehirn brauchen sie ständig „Kicks“, um in einem aktivierten Zustand zu bleiben und sich konzentrieren zu können. Sie sind voll da, wenn es brennt und können sehr hartnäckig an einer Sache arbeiten, solange sie daran brennend interessiert sind. Aber wehe es glimmt nur eine Glut, dann wendet sich ihre Aufmerksamkeit tausend anderen Dingen zu.

Durch ihre emotionale, sprunghafte Art zu denken, können sie sehr intuitiv und kreativ sein − Außergewöhnliches schaffen. In einem ausbalancierten Gemütszustand befinden sie sich selten. Durch die mangelnde Impulskontrolle kann das zu heftigen und plötzlichen Reaktionen führen.

Sie wechseln ständig von einem Gedanken zum nächsten. Manche, so wie ich, erleben eine Gedankenflut, die sie kaum kontrollieren können. Aus dem einen Gedanken wird der andere, aus dem zwei neue entstehen und so weiter. Die Reizfilterschwäche lässt das Gehirn nicht zur Ruhe kommen. Hinzu kommen starke innere Unruhe bzw. Antriebschwäche (oft im Wechsel), Schwierigkeiten bei der Kontrolle von Handlungen und Reaktionen sowie die Unfähigkeit zielgerichtet zu planen.

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Dieser Artikel ist im Netzwerk EthikHeute erschienen.

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